Vom 07. bis zum 11. September 2015 reisten wir erneut nach Kosovo und Metochien, um die dort lebenden Serben nach den uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu unterstützen. Neben vielen neuen Eindrücken und Erfahrungen trafen wir dabei auch die Menschen wieder, deren Schicksal sich im vergangenen Jahr auf so wunderbare Weise für immer mit unserem Leben verbunden hat…
In Prizen
Schon früh am nächsten Morgen heißt es aufstehen. Noch etwas schlaftrunken genießen wir Tee und Kaffee in dem kleinen Garten unserer Unterkunft. Wenig später versammeln wir uns auf der Hauptstraße des gerade erwachenden Dorfes, klar zum Start in den Tag. Obwohl es noch früh am Morgen ist, brennt die Spätsommersonne. Vor uns liegt ein weiterer ereignisreicher Tag, an dem uns unser Weg in den Süden der Provinz führt. Erste Station dieser Tagesetappe ist der Besuch der kleinen Milica Djordjević. Das neunjährige Mädchen, das mit seiner Mutter Evica in der alten Kaiserstadt Prizren lebt, ist das einzige Kind innerhalb der serbischen Gemeinschaft in dieser durch UÇK-Milizen während und nach dem Krieg nahezu ethnisch gesäuberten Stadt. Nur etwa 20 von ehemals mehr als 10.000 Serben leben heute noch in Prizren. In der gleichnamigen Gemeinde waren es im Jahr 2011 ganze 237 Personen, so das „kosovarische“ Statistikamt. Die gleiche Zahl findet sich ebenfalls im so genannten „Gemeindeprofil Prizren“ der OSZE aus dem Jahr 2015. Übergriffe auf die wenigen Rückkehrer gehören bis heute zur traurigen Realität.
Auch unsere Freunde aus der Tschechischen Republik und Polen, welche ebenfalls im Rahmen einer zweiten Hilfsmission unterwegs sind, begleiten uns an diesem Tag. Im Komplex der Kirche des Heiligen Georg, wo Milica täglich unterrichtet wird, treffen wir das Mädchen und ihren Lehrer Vuko Danilović, Professor der Soziologie und Philosophie. Auch Mutter Evica und der 85-jährige „Großvater“ Adam sind gekommen. Wir freuen uns, den alten Goranen aus Prizren, der einst beschlossen hatte den beiden zu helfen, gesund wieder zu sehen. Ein gutes Jahr ist seit unserer ersten Begegnung vergangen und entsprechend viel gibt es zu berichten. Natürlich haben wir auch für Milica einige Überraschungen und benötigtes Schulmaterial mitgebracht. Die Gitarre, welche sie sich gewünscht hatte, ist für das Mädchen sichtlich eine große Freude.
Bald schon verabschieden wir uns und auch Milica muss wieder in den Unterricht, zurück in das kleine Zimmer, in dem sie die einzige Schülerin ist. Wir wünschen dem kleinen tapferen Mädchen alles Gute und hoffen, dass es auch für sie und alle anderen Serben in Kosovo und Metochien eine friedliche Zukunft geben möge. Die Geschichte der kleinen Milica Djordjević und ihrer Mutter sind als Symbol des serbischen Überlebenskampfes in Kosovo und Metochien weit bekannt. Im Begleittext des im Jahr 2015 erschienenen Dokumentarfilmes „MILICA“ heißt es unter anderem: „Dies ist die Geschichte des acht Jahre alten Mädchens Milica, die im 21. Jahrhundert irgendwo in Europa lebt, ohne das Recht auf Freiheit…“.
Ein Gang durch das ehemalige serbische Viertel, hinauf zur Festung Kalaja, und ein Besuch der Ruinen der Kirche des Heiligen Erlösers beschließt unseren Aufenthalt. Die Kirche, welche seit 1990 als Kulturdenkmal von außerordentlicher Bedeutung unter dem Schutz der Republik Serbien stand, wurde während der Pogrome vom 17. März 2004 schwer beschädigt. Von der 525 Meter über dem Meeresspiegel thronenden Festungsanlage bietet sich ein wunderbarer Blick über die Stadt. Seit 2008 werden einzelne Konservierungs- und Sanierungsarbeiten vorgenommen. Archäologische Ausgrabungen auf der rund 1,5 Hektar großen Fläche innerhalb der Festungsmauern, begannen bereits 1969.
Nach einer Stärkung reisen wir weiter zum etwa fünf Kilometer entfernten Erzengelkloster, das im Laufe seiner Geschichte mehr als einmal dunkle Zeiten zu überstehen hatte. Mitte des 14. Jahrhunderts erbaut, zerstörten die Osmanen im Jahr 1455 die den Erzengeln Michael und Gabriel geweihte Anlage. Aus den Steinen errichteten die Eroberer 160 Jahre später, 1615, die Sinan-Pasha-Moschee, welche heute als Wahrzeichen Prizrens gilt. Erst 1927 wiederentdeckt, nutzte zunächst die jugoslawische Armee Teile des Areals. Ab 1998 lebten einige wenige Mönche in den Klosteranlagen. Während der Pogrome vom 17. und 18. März 2004 wurden die neu errichteten Wohngebäude und Werkstätten niedergebrannt, die Mönche vertrieben. Still wandeln wir durch die Ruinen, an deren Rand sich die neuen Wohngebäude und Werkstätten der Geistlichen erstrecken. Nur das Kreischen der großen Steinsäge vor dem imposanten hölzernen Tor durchdringt die Stille des Tales und hallt von den das Kloster umgebenden Felswänden wider.
In einer kleinen Kapelle erinnern Ikonen an den 1999 verschleppten und ermordeten Mönch Vater Chariton Lukić. Der Geistliche, der im Erzengelkloster lebte und arbeitete, wurde am 16. Juni 1999 unter den Augen mindestens eines ausländischen Journalisten, sowie anwesenden KFOR-Soldaten von bewaffneten Personen in Uniformen der Kosovo-Befreiungsarmee UÇK mitten in Prizren entführt. Seinen enthaupteten und schwer verstümmelten Körper fand man am 8. August 2000 in der Nähe von Prizren. Laut einem forensischen Bericht gibt es viele Beweise, dass sein Körper nach dem Mord nicht begraben wurde. Nur das Skelett blieb. Mehrere Rippen und die linke Hand waren gebrochen. Der Kopf und ein paar Wirbel fehlten. Auch weitere Befunde, wie etwa Messerschnitte und Stiche in der aufgefundenen Kleidung, deuten auf einen qualvollen Tod Vater Charitons hin. Heute ist er ein Heiliger der serbisch-orthodoxen Kirche. Seine Ermordung geschah, wie etliche andere Nachkriegsverbrechen, nach der bereits erfolgten Ankunft und Stationierung der KFOR-Truppen im Kosovo. So etwa auch die komplette Zerstörung des Klosters Zočište im September 1999 durch die UÇK.
Versunken in Gedanken, beinahe wie in einer anderen Welt, verabschieden wir uns und brechen auf in die „Enklave“ Strpce. Bereits in den Jahren 2013 und 2014 haben unsere Freunde aus Italien im Rahmen mehrerer Hilfsmissionen eine der dortigen Schulen besucht und unterstützt. Die Dunkelheit ist bereits heraufgezogen, als wir uns vom Direktor verabschieden, der uns seine Schule gezeigt und über die täglichen Probleme berichtet hat. Gespannt, was die verbleibenden zwei Tage unserer Reise noch für uns bereithalten mögen, erreichen wir in der Nacht wieder unser Dörfchen Velika Hoca.
Naša radost – Unsere Freude
Es ist Donnerstag, der 10. September. Auf unserem Plan steht an diesem Tag der Besuch des Kindergartens „Naša radost“, der über zwei Einrichtungen in Orahovac und Velika Hoca verfügt. In Orahovac werden wir bereits von Direktoren Ljiljana Radić erwartet. Es dauert eine Weile, bis wir die ganzen Sachen aus unseren Autos herangebracht haben und nun den Kindergarten betreten. Das Gebäude, ein verlassenes serbisches Wohnhaus, konnte 2009 durch die Organisation „Kinder Beograds“ erworben und als Spende dem örtlichen Kindergarten zur Verfügung gestellt werden. Schüchtern und mit großen Augen betrachten uns die Kinder.
Schnell verteilen Rima, Ruben und die anderen die kleinen mitgebrachten Geschenke, welche die Kinder mit großem Staunen entgegen nehmen. Jeder bekommt Buntstifte, ein Malheft und Süßigkeiten. Auch Seifenblasen sind dabei, die natürlich umgehend ausprobiert werden müssen. Unterdessen bringen Matteo und ich die restlichen Dinge in das Büro von Direktion Ljiljana, die wir in Absprache mit ihr dem Bedarf der Einrichtung entsprechend mitgebracht haben. Bald stapeln sich auf den kleinen Tischen und Stühlen allerlei Dinge. Bastelpapier, Federballspiele, Motorikspielzeug, Buntstifte, zwei Festnetztelefone, Kopierpapier, Springseile, Bastelkleber, Scheren, ein Fußball, Kreide und vieles andere mehr. Auch eine Ikone haben wir mitgebracht. Als die Direktorin dann im Spielzimmer einen ganzen Sack Bälle entleert, ist die Überraschung perfekt.
Kurz darauf betreten wir für ein letztes Abschiedsfoto den kleinen Hof vor dem Gebäude. Die Freude ist groß, als wir die mitgebrachten Stofftiere unter den Kindern verteilen. Wie kleine Farbtupfen tanzen sie durch die ansonsten trist wirkende Umgebung. Nur die bunte kleine Rutsche, die inmitten der betonierten Flächen und grauen Häuserwände emporragt, verleiht der Szenerie ein wenig Farbe. Auch die Fassade des Kindergartens ist alt und das Dach braucht dringend eine Reparatur. Ganz anders als der Kindergarten in Velika Hoca, der unser nächstes Ziel sein wird. Hier können die Kinder in einem neuen Gebäude, vor wenigen Jahren von einer Hilfsorganisation errichtet, ihren Alltag verbringen. Wieder werden wir herzlich begrüßt, spielen sich die selben herzerwärmenden Szenen ab, wie zuvor schon in Orahovac. Jedes Mal aufs Neue sind wir tief beeindruckt von den strahlenden Kinderaugen, die sich über jede noch so winzige Kleinigkeit aus reinem Herzen freuen. Im Anschluss werden wir zu Tisch gebeten. Nachdem nach alter Tradition ein Brot gebrochen wurde, lassen wir den Nachmittag in geselliger Runde mit den Erziehern ausklingen. Am Abend besuchen wir noch das Kloster Zočište…
1327 erstmals erwähnt, wurde das den Heiligen Heilern Cosmas und Damian geweihte Kloster während der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 zerstört. Erst im späten 16. Jahrhundert wurde es wieder aufgebaut. Am 21. Juli 1998 nahm die UÇK das Kloster ein. Sie behauptete, die Anlage gehöre ursprünglich der albanisch-orthodoxen Kirche. Sieben Mönche, eine Nonne und mehrere Dutzende Serben wurden daraufhin dort gefangen gehalten. Später wurden sie entlassen. Während des Kosovo-Krieges wurde das Kloster von der UÇK am 13./14. September 1999 zerstört, geplündert und niedergebrannt. Die Reliquien der Heiligen Heiler Cosmas und Damian wurden in das Kloster Sopoćani verlegt, und die Hauptklosterglocke in den Brunnen geworfen. Im Jahr 2008 wurde die kleine Kirche unter Zuhilfenahme originaler Baumaterialien wiedererrichtet.
Während einige von uns der abendlichen Liturgie beiwohnen, sitzt der Rest unserer Mannschaft draußen in Gesprächen vertieft und bestaunt ungläubig die Bilder mit den Ruinen der gesprengten Kirche. Nach dem Gottesdienst setzen sich einige der Mönche zu uns und beantworten geduldig all unsere Fragen. Immer wieder wandern unsere Augen durch das Gelände mit den wiedererstandenen Bauten, immer die Bilder mit den Ruinen im Hinterkopf, welche an den Fensterscheiben hinter uns angebracht sind. Wie schon an den vergangenen Tagen ist es bereits dunkel als wir uns auf den Weg in unsere Unterkunft machen. Schon bald, nach den wenigen verbleibenden Stunden Schlaf, zieht der Morgen unseres letzten Tages im Kosovo herauf.
Gavrilo Kujundžić und Familie Lukić
Der letzte Tag unserer Reise ist angebrochen. Während wir unsere Sachen packen fällt kaum ein Wort. Spürbare Beklommenheit liegt in der Luft, denn der Abschied fällt schwer. Unausweichlich naht der Moment der Abreise. Einen kleinen Aufschub bieten uns nur noch ein kurzer Besuch in der Schule von Velika Hoca und das Wiedersehen mit Famile Lukić. Beides jeweils nur wenige hundert Meter von unserer Unterkunft entfernt.
In der Schule führt man uns nach einer Tasse Kaffee in eine Klasse. Vier Mädchen sitzen aufmerksam an ihren Pulten. Musiklehrer Gavrilo Kujundžić, ein bekannter und bereits mehrfach preisgekrönter Komponist, begrüßt uns herzlich. Kaum einige Sekunden sind vergangen und schon finden wir uns wieder inmitten der wunderschönen Lieder, die von Schmerz und Heimatliebe erzählen, wie etwa der Titel „Metohija moja“ (mein Metochien) dessen Text und Komposition von eben jenem bescheiden gebliebenen Gavrilo Kujundžić stammt, der nun auf seinem Akkordeon die Mädchen begleitet. Die tiefe Seele dieser Lieder, gepaart mit den Eindrücken der vergangenen Tage und unserem kurz bevorstehenden Abschied bleibt nicht ohne Wirkung…
Nach langem Winken, hinüber zur Schule wo die Mädchen an den großen Fenstern uns hinterher blicken, biegen wir in die Straße von Familie Lukić ein. Als wir sie im vergangenen Jahr zum ersten Mal trafen, lebten sie gemeinsam mit ihren Eltern in einem sehr kleinen Haus. Damals erwartete die Familie ihr zweites Kind. In diesem Jahr sind wir sehr glücklich zu sehen, dass Familie Lukić nun unter besseren Bedingungen leben und ihre Kinder großziehen kann. Sie haben ein neues Haus bezogen, welches durch ein Programm der Kosovo-Regierung errichtet wurde. Auch das gehört zu den Realitäten in Kosovo und Metochien. Aber sie erzählten uns auch von den Schwierigkeiten und dass es eine Menge Kraft und Nerven kostete, diesen Weg zu gehen. Es dauerte drei Jahre, bis der Antrag bewilligt wurde. Drei Jahre in denen Familienoberhaupt Darko immer und immer wieder nach Pristina fahren, Unmengen an Papieren unterzeichnen und nachfragen musste. Nun hat die mittlerweile vierköpfige Familie ihr neues Zuhause, in dem allerdings der Ofen fehlt und damit die Möglichkeit, das Haus zu heizen. Der kleine Sohn ist nun etwa ein Jahr alt und in einigen Wochen beginnt der Winter. So versprechen wir ihnen, uns dieses Problems anzunehmen. Bereits einige Wochen später werden wir Familie Lukić eine Spende schicken, von welcher sie den benötigten Küchenherd kaufen können, der sowohl als autarke Heizung für das Haus, als auch als Kochstelle dient. Wir verabschieden uns herzlich. Das Loslassen fällt uns schwer, hat doch jeder auf seine ganz persönliche Weise ein Stück seines Herzens bei all diesen Menschen und ihrer schicksalshaften Heimat verloren.
Wir besteigen unsere Autos und erreichen wenige Stunden später, nach einem kurzen Zwischenhalt an der Gedenkstätte Gazimestan auf dem Amselfeld wieder den Grenzübergang. Es wird noch Wochen dauern, bis wir all die neuen Eindrücke, die Veränderungen im Guten wie im Schlechten und alles Andere sortieren und verarbeiten können. Eine letzte Nacht in Beograd, bevor wir wieder nach Deutschland aufbrechen. Schon jetzt, während unsere Autos uns durch Serbien, Ungarn, die Slowakei…, zurück in Richtung Heimat tragen, schmieden wir die Pläne für unseren Einsatz im kommenden Jahr. Am Sonntag erreichen wir wieder Dresden und der Alltag nimmt uns mit all seiner Wucht und Hektik sofort wieder in Beschlag. Es scheint, als sei alles wie immer und doch ist nichts mehr wie es war.
Ende
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